„Das Schweine System – wie Tiere gequält, Bauern in den Ruin getrieben und Verbraucher getäuscht werden“ von Matthias Wolfschmidt, Veterinärmediziner und Mitbegründer der Verbraucherorganisation foodwatch, geht der Frage der Möglichkeit tierischer Lebensmittel, die ohne den Preis der Tierqual erzeugt wurden, nach. Er benennt den status quo beim Namen: Produktionskrankheiten sind systembedingt, das Elend in den Ställen ist massiv. Schweine mit Lungenentzündung, Kühe mit Euterkrankheiten sind die Regel, nicht die Ausnahme.
Wenn der Autor von Tierqual spricht, bezieht er sich jedoch im Wesentlichen auf die Gesundheit der Tiere – eine Auseinandersetzung mit der Frage nach einer Tiergerechtigkeit sucht man in diesem Buch vergeblich. Dies ist jedoch auch nicht das Ziel des Buches – es geht vielmehr um das Aufzeigen der herrschenden Zustände und der Suche nach ihren Ursachen. Wolfschmidt ist hierbei um Sachlichkeit und Objektivität bemüht, wenngleich dies als Kampagnenleiter von foodwatch nicht immer leichtfällt – pragmatisch und trotzdem mitfühlend. Dennoch gelingt es ihm, den sonst leider allzu häufig obligatorischen Fingerzeig auf den Verbraucher zu vermeiden. Auch stellt er nicht die Bauern an den Pranger, sondern verdeutlicht vielmehr die ungleichen Abhängigkeitsverhältnisse der Bauern gegenüber dem übermächtigen Handel. Doch bleibt Wolfschmidt nicht bei der Zeichnung eines düsteren und unbequemen Bildes. Er deutet vielmehr Lösungsansätze an und ist stets um einen fairen Interessenausgleich zwischen Erzeugern, Handel und Verbrauchern bemüht. Ein Buch für alle, die nicht länger die Augen vor einer grausamen Realität verschließen wollen, ohne gleich von der Moralkeule erschlagen zu werden und dennoch offen für neue Sichtweisen und Wege sind. Das Schweine System von Mathias Wolfschmidt ist 2016 im S. Fischer Verlag erschienen, umfasst 235 Seiten und kostet 18,00 €.
Anspruch und Wirklichkeit
Das Buch ist in 5 Kapiteln aufgebaut: Nach Vorwort und einer kurzen Einleitung, in der Wolfschmidt auf eigene Erfahrungen, Biografie und Beweggründe eingeht sowie einen ungefähren Ausblick auf die Schwerpunkte des Buches gibt, sensibilisiert er den Leser im ersten Kapitel „Die schmerzfreie Zone – Tiere in unserer Warenwelt“ für die Problematik zwei weit auseinanderklaffenden Wirklichkeiten: Auf der einen Seite Werbeslogans des Handels mit Bildern von Kühen, die in idyllischen Landschaften grasen, im Hintergrund schneebedeckte Berggipfel und ein urig hergerichteter, sensenschwingender Bauer auf der Käseverpackung. Dem gegenüber die tatsächlichen Zustände in den Betrieben: Spaltbetonböden ohne Stroh, stundenlange Tiertransporte, Muttersauen, die wochenlang bewegungsunfähig zwischen stählernen Stangen ausharren müssen, Euterentzündungen, verletzte Gelenke, kupierte Schwänze und Schnäbel, kranke Organe, vergaste und geschredderte Küken, massenhafte Antibiotikagaben und nicht zuletzt betäubungslos kastrierte Ferkel. Kranke und gequälte Tiere als Zutaten für unser Essen.
Ein krankes System
In Kapitel 2 „Der elende Alltag von Kuh, Schwein und Huhn“, dem umfangreichsten und somit schwerpunktmäßigen Kapitel, geht Wolfschmidt auf die drei am häufigsten genutzten Tiere Rind, Schwein und Huhn ein. Er arbeitet umfangreich die jeweiligen Haltungsbedingungen und daraus folgenden produktions- und systembedingten Produktionskrankheiten heraus. Er zeigt auf, dass sich die Haltung von Rindern, Schweinen und Hühnern zwar in ihrer Art und Weise grundlegend unterscheidet, diese Tiere jedoch alle eines gemeinsam haben: Das Leiden unter der Produktion ihrer selbst.
Die Milchkuh
Sei es die Kuh, welche aufgrund von Fruchtbarkeitsstörungen, Eutererkrankungen, Klauenerkrankungen oder Stoffwechselstörungen viel zu früh zum Schlachter gegeben wird. Deren mit einer hohen Zahl körpereigener Zellen belastete Milch solange mit weniger belasteter Milch vermischt wird, bis der Grenzwert eingehalten wird. Was den Schluss zulässt, dass letztlich kein Liter Milch im Handel von gesunden Kühen stammt und sich in jeder Milchtüte Milch von Tieren mit Eutererkrankungen befindet, welche bei derart hoher Eiterbelastung allein nicht in den Handel hätte gelangen dürfen.
Das Schwein
Sei es das Schwein, welches mit Artgenossen zusammengepfercht auf engstem Raum kein artgerechtes Leben führen kann. Welches tausendmahl mehr Riechzellen als der Mensch hat, und dabei mit bis zu tausenden anderen Schweinen im eigenen Kot und Urin leben muss. Welches daher zu unnatürlichen Verhaltensweisen bis hin zu Kannibalismus neigt. Welchem deshalb die Spitze des Ringelschwanzes mit einem heißen Messer abgeschnitten wird – ohne Betäubung.
Das Huhn
Sei es das Huhn, welches aufgrund der immer schnelleren Gewichtszunahme das eigene Gewicht nicht mehr tragen kann. Dessen Beine, Gelenke und Organe unter der Last deformiert sind, sodass es sich wegen der Schmerzen nicht mehr fortbewegen kann. Um nach nur 30 Tagen schlachtreif zu sein.
Das Leiden unter der Produktion ihrer selbst
Wolfschmidt beschreibt eindrucksvoll, dass Tieren grundlegende Bedürfnisse nicht nur verweigert werden – der Kampf um den niedrigsten Preis kennt schlicht kein Lebewesen mit eignen Bedürfnissen. Entscheidend ist allein das „Produkt Tier“. Den Preis der Wettbewerbsfähigkeit zahlen die Tiere, welche in diesem System als Individuum keinen Platz finden. Sie werden aus Kostengründen systematisch krank gemacht. Produktionskrankheiten als Resultat ökonomischer Zwänge.
Tiere als Ware
Im folgenden Kapitel 3 „Tierwohl als Systemkosmetik oder: Der Rohstoff Tier“ zeigt Wolfschmidt, dass Produktionskrankheiten zwar ökonomisch nachteilig, aber zur Senkung der gesamten Produktionskosten notwendig sind. Er deckt das systematische Wegducken der für die Produktion im wesentlichen verantwortlichen Unternehmen der deutschen Lebensmittelwirtschaft auf. Weiterhin thematisiert er das Schrumpfen der landwirtschaftlichen Betriebe bei gleichzeitigem Wachsen der übrigbleibenden „Big Player“, die ihre Marktmacht gnadenlos ausnutzen und nicht selten missbrauchen. Wolfschmidt beschäftigt sich auch mit der Initiative Tierwohl, die von den Handelskonzernen ins Leben gerufen wurde. Er arbeitet heraus, dass diese zur Lösung der Probleme in der Nutztierhaltung letztlich nichts beiträgt, sie aber immerhin ein Zugeben der Missstände seitens der Handelskonzerne indiziert.
Tierwohl als PR-Aktion
In Kapitel 4 „Das System der Tierqual-Ökonomie“ entlarvt Wolfschmidt Tierwohllabel und andere vielversprechende Siegel als das was sie sind: Eine Beruhigung der Verbrauchergewissen. Er zeigt auf, dass auch Bio- und Öko-Siegel nicht vor Produkten von kranken Tieren schützen. Dass Bio nicht immer besser als konventionell ist, dass kleiner Betrieb nicht immer besser als großer Betrieb ist – letztlich, dass schwarz-weiß Denken weder Tieren noch Verbrauchern hilft. Er beschreibt Tierschutz als ein gesamtgesellschaftliches Ziel, das nur mit Erzeugern, Handel, Politik und Verbrauchern gemeinsam erreicht werden kann. Wolfschmidt endet mit der Einschätzung, dass jeder tierische Produkte verzehren können soll, aber niemand das Recht auf billige Produkte hat, die um den Preis der Tierqual erzeugt wurden. Dass es kein Menschenrecht auf Schnitzel, wohl aber einen Anspruch der Tiere auf Respekt und Schutz vor vermeidbaren Qualen gibt. Dass das der Preis der „Tiergerechtigkeit“ ist, und dieser Vorrang vor der Wahlfreiheit der Verbraucher hat.
Fazit
Wolfschmidt endet in Kapitel 5 „Fazit: Was sich ändern muss“ mit der Forderung, dass Tierschutz kein Nischen- und Elitenprojekt zur Beruhigung des Gewissens einer Minderheit der Verbraucher sein darf. Dass Tierschutzgesetze, welche Tiere als schwächstes Glied in der Kette schützen sollen, auch eingehalten werden müssen. Dass der Wettbewerb für die Landwirte fairer werden muss, damit sie die Kosten für eine „tiergerechtere“ Produktion auch tragen können. Und vor allem, dass Wirtschaftlichkeit und ökonomischer Druck nicht auf Kosten der Gesundheit der Tiere ausgetragen werden darf. Abschließend stellt Wolfschmidt einen konkreten Maßnahmenkatalog vor, welcher sich unmittelbar an den Gesetzgeber wendet und insoweit auch als Vorlage für Anträge dienen kann.
Aus sozialdemokratischer Sicht…
…ist das Buch insofern empfehlenswert, als dass es zum einen den Weg zu mehr „Tiergerechtigkeit“ als einen gesamtgesellschaftlichen aufzeigt, dessen Ziel nur unter Mitwirkung aller Akteure erreicht werden kann. Zum anderen wird deutlich, dass unser Wohlstand auf der Ausbeutung der schwächsten basiert, welche das Ringen um das günstigste Lebensmittel mit ihrem Leid und letztlich ihrem Tod bezahlen.
Aus Sicht von Sozis für Tiere…
…leistet das Buch einen guten Beitrag zum Verständnis der aktuellen Bedingungen unter denen Tiere leiden. Auf dieser Grundlage fordern wir einen progressiven Tierschutz, der Produktion, Nutzung und Tötung von Tieren hinterfragt und Alternativen fördert.
Eine Rezension von Johannes.