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  • Unser Ernährungssystem steht durch den Angriffskrieg des Putin-Regimes auf die Ukraine zusätzlich unter Druck. Doch auch zuvor war jenes krisenbehaftet und erzeugte neben Lebensmitteln auch Hunger, Lebensmittelverschwendung und ressourcenintensive Konsummuster.
  • Die derzeitige Politik des Agrar- und Ernährungsministers Cem Özdemir ist jedoch nicht hilfreich um diese Missstände in dieser dringlichen Lage abzubauen.
  • Vielmehr müssen er, das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft, aber auch die regierungstragenden Parteien jetzt auf eine echte Ernährungswende hinarbeiten. Gestützt von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen setzt sich auch Sozis für Tiere e. V. für die Ernährungswende ein.

Özdemir seit 100 Tagen im Ernährungsministerium: Seine Appelle und Taten sind nicht hilfreich!

In einem großen SPIEGEL Interview vom 18.03.2022 und vor dem Treffen der EU-Agrarminister*innen am heutigen Montag äußert sich Cem Özdemir zur Versorgungslage mit Nahrungsmitteln in Deutschland und der EU sowie einer möglichen Gefährdung dieser durch den Krieg in der Ukraine.

Klar wird in dem Interview, dass hier, anders als in Ländern des globalen Südens, Versorgungssicherheit herrscht, Lebensmittel aber teurer werden als bisher. Auch kritisiert er die gängige Praxis, 60% der Getreideernte an Tiere zu verfüttern.

Cem Özdemir appelliert an die Bevölkerung, nun weniger Fleisch zu konsumieren.

Auch will er ein Gesetz auf den Weg bringen, um die Tierhaltung transparent zu machen, strengere Regeln sowie ein Stallumbauprogramm.

Auch wenn seine Pläne konkreter scheinen als die der Vorgänger*innen der Union, sind sie doch noch nicht ausreichend oder gehen in die falsche Richtung. Denn es geht nicht darum, den Tieren ein paar Zentimeter mehr Platz zu verschaffen, sondern darum politisch eine echte Ernährungswende einzuleiten.

Das wird nicht gelingen, indem unbürokratisch Überbrückungshilfen an Schweinehalter*innen gezahlt werden, anstatt diesen finanziellen Hilfen für einen Abbau oder Ausstieg aus der Tierhaltung zukommen zu lassen. Auch die Freigabe von Anbauflächen, die für den Umweltschutz z.B. in Form von Blühstreifen vorgesehen waren, für Futtermittel freizumachen weist nicht in die von ihm selbst geforderte Richtung.

Insgesamt ist das leider zu wenig für einen Minister, der in fast jedem Interview betont, selbst Vegetarier zu sein und niemanden überzeugen will, einige Kritikpunkte am gängigen Ernährungssystem benennt und sich doch nicht ernsthaft für eine Ernährungswende einsetzt.

Wissenschaft: Angesichts des Ukraine-Krieges ist die Ernährungswende dringlicher denn je

In einer bemerkenswerten Erklärung von Wissenschaftler*innen des Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, der Berliner Charité, der Universität Oxford und weiteren Instituten warnen diese angesichts des Krieges in der Ukraine davor, notwendige Transformationsprozesse im Ernährungssystem auszulassen, aufzuschieben oder sogar den Futtermittelanbau in der EU zu erhöhen. Vielmehr raten sie dazu, diese Prozesse mit erhöhter Priorität anzugehen.

Die Autor*innen benennen in der am Freitag veröffentlichten und bereits von 300 Wissenschaftler*innen unterzeichneten Erklärung die Probleme unseres Ernährungssystems wie z.B. ungesunde Ernährung, den massiven Beitrag zur Klimakrise und den Verlust der Biodiversität. Sie fokussieren aber auch die hohe Abhängigkeit des nahen Ostens und Afrikas von ukrainischen und russischen Agrarprodukten und fürchten, massiv ansteigende Getreide-Preise könnten Millionen Menschen in Armut und Hunger treiben.

Die Wissenschaftler*innen fordern:

  1. Den schnelleren Umstieg auf eine gesündere Ernährung mit weniger Tierprodukten in Europa (und anderen Hocheinkommensländern)
  2. Die Steigerung der Leguminosen-Produktion und die Stärkung der Farm2Fork-Strategie
  3. Die Verringerung von Lebensmittelabfällen

Ihre Argumente zur Forderung zu einem schnellen Umstieg auf eine gesündere Ernährung mit weniger Tierprodukten sollen hier wiedergegeben:

  • Der höhere Konsum von Hülsenfrüchten, Obst und Gemüse sowie weniger Tierprodukten würde den Druck auf die globalen Weizenvorräte substantiell reduzieren. Geschätzt wird, dass die Reduktion der Getreidefütterung an Tiere um ein Drittel den Zusammenbruch der ukrainischen Exporte kompensieren könnte.
  • Die gleichzeitige Reduktion von Konsum und Produktion von Tierprodukten hat positive Effekte:
    • Die drastische Reduzierung ist notwendig, um die globale Erwärmung deutlich unter 2°C zu halten, die Zerstörung und Verschmutzung von natürlichen Habitaten einzudämmen und die Überschreitung der planetaren Belastungsgrenzen zu stoppen. Eine überwiegend pflanzliche Ernährung vermeidet elf Millionen vorzeitige Tode und reduziert Krankheiten.
    • Politische Bemühungen, jetzt weitere Flächen für die Futtermittelproduktion bereitzustellen, um die Tierbestände zu stabilisieren, sind kontraproduktiv, wenn es um Ernährungssicherheit geht und verhindern die Transformation.

Nicht grüner als die Grünen, aber stärker: Für eine Neuausrichtung sozialdemokratischer Ernährungs- und Tierpolitik

Wer sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten in der Sozialdemokratie in der Tierschutz- und Ernährungspolitik eingebracht hat, war oftmals Außenseiter. Viele kennen Sprüche wie „Dann geh doch zu den Grünen“ oder „Wir wollen nicht grüner sein als die Grünen“ oder dessen Gehalt.

Die Sprüche sind zurückzuweisen, da die mannigfaltigen ökologischen Krisen die Lebensgrundlage gerade von Marginalisierten zerstören und Tierschutz schon immer Teil der sozialen Frage und des Klassenbewusstseins war.

Für viele Jahre war der Blick auf die sozialdemokratische Ernährungs- und Tierschutzpolitik durch große Koalitionen getrübt. Jedoch trafen auch die Positionen zu Ernährungsfragen und Tierschutz auch in den Wahlprogrammen bei Ernährungs- und Tierschutz/Tierrechtsgruppen auf wenig Beifall.

Ein Konzentrat der Fehlentwicklungen findet sich in zweierlei:

Der nicht nur durch Hartz IV-Erfinder, Gas-Lobbyist und Putin-Freund Schröder geprägte sozialdemokratische Currywurst-Fetischismus wollte verspieltes politisches Vertrauen durch plumpe Anbiederei an Arbeiter*innen überlagern. Dabei wurden die hohen ökologischen wie sozialen Kosten (Arbeitsbedingungen in Tierfabriken, Erkrankung und Tod durch Fehlernährung) durch die Subventionierung einer zerstörerischen Branche nicht nur in Kauf genommen, sondern befeuert.

Die kulinarischen Angebote bei Parteitagen oder Parteiabenden sehen pflanzliche Ernährungsangebote für alle gar nicht vor. Beim Parteiabend des Bundesparteitags 2019 gab es an „pflanzlichen Angeboten“ z.B. lediglich trockenen Reis und Ruccolasalat. Problematisch ist dies u.a., weil pflanzliche Angebote aus Tierschutzgründen notwendig sind und mit Abstand die geringsten Umwelt- und Klimaschäden erzeugen und einen geringen Ressourcenverbrauch haben.

Eine positive Ausnahme bilden hier die Jusos, die bei ihren Veranstaltungen häufig ein fortschrittlicheres Essensangebot machen.

Es braucht also dringend eine Neuausrichtung.

Wie kann diese gelingen? Sozis für Tiere weiß es:

Für die Enquetekommission des Nordrhein-Westfälischen Landtags hat Sozis für Tiere e. V. bereits im April 2021 die herausragende Bedeutung der Reduktion von Tierkonsum und Tierproduktion für ein nachhaltiges und tiergerechtes Ernährungssystem dargestellt.

Die aktuelle Erklärung aus der Wissenschaft bestätigt unsere Arbeit und die Notwendigkeit einer raschen Transformation des Ernährungssystems. Die Sozialdemokratie benötigt jetzt neben frischen Forderungen auch eine neue Erzählung.

Sie kann diese in ihrer Geschichte finden, etwa in Abwägungen August Bebels zur Tierproduktion und Lebensmittelverschwendung, der Empathie und Solidarität Rosa Luxemburg für Tiere (Büffelbrief) und der zentralen Bedeutung der aus Gründen des Tierschutzes vegetarischen Restaurants für die starke Widerstandsarbeit der Sozialdemokrat*innen des ISKs gegen den Deutschen Faschismus*.

Sie findet sich auch im progressiven Tierschutz, welcher Käfige hinterfragt, Tiere nicht als Ware setzt, kurzum: Die Produktion, Nutzung und Tötung von Tieren hinterfragt und Alternativen fördert.

* problematische Ansätze des ISKs haben dessen vorherigen Mitglieder später aufgearbeitet und revidiert.

Unsere Forderungen für eine Agrar- und Ernährungswende

Die Zeit zu handeln ist knapp. Der Krieg in der Ukraine bedroht die Versorgungslage insbesondere im Nahen Osten und in Afrika. Die Klimakrise und der Verlust der Artenvielfalt machen keine Pause. Die staatlichen Fehlanreize für Tierkonsum führen zu vermeidbaren Zivilisationskrankheiten und einer höheren Sterblichkeit und auch das Leid der zu Ware gemachten Tiere in den Tierfabriken wird nicht weniger.

(Neue) „Tierwohl“-Tierfabriken sind erkennbar keine Antwort auf diese Krisen. Neben der Russland- und der Energiepolitik muss daher auch die Ernährungspolitik revidiert werden.

Özdemir, die Sozialdemokratie und die Regierung müssen nun einen Transformationsprozess anstoßen, der realistisch ist. Das heißt, die Probleme wirklich anzugehen, statt sie zu verdecken oder zu verlängern.

Wir schließen uns der Forderung der Wissenschaftler*innen an:

Der „[…] schnellere Umstieg auf eine gesündere Ernährung mit weniger Tierprodukten in Europa (und anderen Hocheinkommensländern) […]“ muss das wesentliche Ziel einer nachhaltigen Ernährungspolitik sein.

Wir fordern:

  1. Die zerstörerische Tierindustrie wird bislang mit mehr als 13 Milliarden Euro im Jahr subventioniert. Das müssen wir beenden.
  2. Ein Milliarden starkes Sofortprogramm, mit dem Landwirt*innen gefördert werden, die ihre Tierproduktion abbauen. Weiterhin müssen Mechanismen gefunden werden um ihnen ein stabiles Einkommen sicherzustellen und das Höfesterben zu beenden.
  3. Bevorstehende Änderungen im EU-Recht zu nutzen und die Mehrwertsteuer auf Obst, Gemüse, Hülsenfrüchte und Getreide zu streichen.
  4. Pflanzliche Angebote in der Gemeinschaftsverpflegung zu erhöhen, angefangen im Bundestag.