Zuletzt überarbeitet: 16.10.2019
Tierschutz spielte im Rennen um den Parteivorsitz kaum eine Rolle, dennoch wollen wir den Tierschützer*innen in der SPD eine Analyse und eine Wahlempfehlung mit auf den Weg geben. Erfahre, warum wir uns am Ende für Nina & Karl entschieden haben.
Nach dem Rücktritt von Andrea Nahles hat die Partei ein für sie neuartiges Verfahren gewählt, um die neuen Parteivorsitzenden auszuwählen. Die Kandidat*innen mussten sich zunächst die Unterstützung von 5 Unterbezirken oder einem Bezirk/Landesverband sichern und sind dann bei 23 Regionalkonferenzen gegeneinander angetreten. Nach diesem Wahlkampf sind noch die Teams Saskia Esken & Norbert Walter-Borjans, Klara Geywitz & Olaf Scholz, Christina Kampmann & Michael Roth, Petra Köpping & Boris Pistorius, Nina Scheer & Karl Lauterbach sowie Gesine Schwan & Ralf Stegner im Rennen. Das Team Simone Lange & Alexander Ahrens und der Einzelbewerber Karl-Heinz Brunner haben zwischenzeitlich aufgegeben. Auch das Team Hilde Mattheis & Dierk Hirschel hat aufgegeben, wird jedoch aufgrund ihres späten Rückzugs immer noch auf dem Wahlzettel stehen.
Nun entscheiden die Mitglieder zwischen dem 14. und 25. Oktober, wer auf dem Parteitag im Dezember gewählt werden soll. Hat kein Team eine Mehrheit hinter sich gebracht, entscheidet eine Stichwahl.
Berücksichtigung tierschutzrelevanter Positionen
Auf welchen Grundlagen stützt sich unsere folgende Analyse? Wir haben uns die Webseiten der Kandidat*innen-Teams angeschaut und, wenn vorhanden, ihre entsprechenden Positionspapiere durchgelesen.
Die Jusos Düsseldorf haben eine Wahlhilfe, ähnlich einem Wahl-o-Maten entwickelt. In diesem wurde auch nach Einführung einer Fleischsteuer oder dem Verzicht der steuerlichen Subventionierung von Fleisch gefragt. Da uns diese Themen wichtig sind und wir dazu auch eine Kampagne führen, sind auch diese Ergebnisse selbstverständlich ein Teil unserer Abwägung.
Der entsprechende fünfte Wahlprüfstein der Umweltorganisationen BUND, Campact, DUH, DNR, Naturfreunde, NABU und WWF floss ebenfalls in unsere Bewertung.
Schließlich ist auch die Antwort der Teams auf unseren eigenen Tierschutz-Wahlprüfstein selbstredend Teil unserer Analyse.
Auch wenn wir von einzelnen Personen wissen, ob sie sich vegetarisch oder vegan ernähren, hat dies keine Auswirkungen auf unsere Analyse, denn schließlich geht es uns um ihre politischen Forderungen.
Inhaltliche Anforderungen
Gemäß dem progressiven Tierschutz wollen wir die gewaltvolle Tierproduktion und den Tierkonsum überwinden. Im Folgenden ist also vor allem zu prüfen, ob die Kritik und die Forderungen der Kandidat*innen in diese Richtung tendieren.
Leider müssen wir dabei berücksichtigen, dass unsere Position innerhalb der Sozialdemokratie noch eine Minderheiten-Meinung ist. Melde dich, wenn du uns aktiv oder passiv unterstützen willst, um das zu ändern.
Das war nichts
Im letzten Jahr wurden 771 Millionen Tiere allein in Deutschland aus wirtschaftlichen Gründen produziert und geschlachtet. Die häufig katastrophalen Bedingungen, unter denen das geschieht, sind allgemein bekannt. Wir erwarten nicht notwendigerweise eine weitgehende Kritik dieses Systems, aber doch eine Stellungnahme der Kandidatenteams. Insofern ärgern wir uns, diese Thematik nicht von den Teams Saskia Esken & Norbert Walter-Borjans, Klara Geywitz & Olaf Scholz, Christina Kampmann & Michael Roth und Gesine Schwan & Ralf Stegner im relevanten Maßstab angesprochen zu sehen. Weder von sich aus, noch in einer Antwort auf unseren Wahlprüfstein. Als einziges Team haben Nina Scheer & Karl Lauterbach unseren Wahlprüfstein in der kurzen Frist (drei Tage) beantwortet. Allerdings hat das Team Petra Köpping & Boris Pistorius uns innerhalb der Frist eine Antwort am fünften Tag in Aussicht gestellt und diese schließlich auch zugestellt.
Fleischsteuer oder die Streichung von Steuerprivilegien
Bevor wir jedoch diese Kandidaturen stärker untersuchen, wollen wir die Antworten der Teams auf die Frage nach der Fleischsteuer (Frage 22) beim Wahl-O-Mat der Jusos Düsseldorf betrachten.
Die Antwort von Christina Kampmann & Michael Roth geht an der Frage vorbei. Gesine Schwan & Ralf Stegner sowie Saskia Esken & Norbert Walter-Borjans behaupten eine einseitige Belastung von Geringverdiener*innen, Petra Köpping & Boris Pistorius nennen eine Steuer den falschen Weg. Dabei gibt es verschiedene Wege und Möglichkeiten, diesen steuerlichen Fehlanreiz sozialgerecht abzubauen.
Immerhin wollen Saskia Esken & Norbert Walter-Borjans einen „geringeren Fleischkonsum“.
Petra Köpping & Boris Pistorius
Petra Köpping & Boris Pistorius hingegen wollen die „industrielle Massentierhaltung eindämmen“. Ergänzend hierzu steht ihre in unserem Wahlprüfstein gemachte Aussage zum Schutz des Klimas den Fleischkonsum zu reduzieren.
Einen Schwerpunkt setzt das Team bei der Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik der Europäischen Union (GAP):
Ein zentrales Element ist dabei die anstehende Reform der Gemeinsamen europäischen Agrarförderung (GAP). Dabei muss erreicht werden, dass Landwirte für umweltschonendes und tierwohlgerechtes Wirtschaften fair bezahlt werden. Die Agrarförderung muss entsprechend an Kriterien gebunden werden, die den Menschen in der Landwirtschaft, den ländlichen Regionen und dem Umwelt- und Tierschutz zugutekommen. Tiere sollen mehr Platz und Tageslicht, bessere Luft und Beschäftigungsmaterial bekommen. Das bedeutet, dass auch tier- und klimafreundliche Stall- und Landtechnik förderbar werden muss.
Mit der Schaffung eines Tierwohllabels will das Team den Verbraucher*innen einen entsprechenden Konsum erleichtern. Zudem fordert das Team eine Ombudsstelle für besseren Tierschutz und ein Verbandsklagerecht für anerkannte Tierschutzorganisationen. Auch sollen Tierversuche weiter reduziert werden.
Unsere Bewertung
Positiv anzumerken ist die Absicht, industrielle Massentierhaltung einzudämmen und den Fleischkonsum aus Klimagründen reduzieren zu wollen. Damit kommen wir aber auch schon zu einem zentralen negativen Punkt, denn was ist hier das Ziel? 5 %, 50 % oder 100 % weniger?
Vollkommen zurecht sieht das Team die Gestaltung der Gemeinsamen Agrarpolitik der Europäischen Union als zentrales Element an. Doch kann es nicht darum gehen die tier- und klimafeindliche Tierproduktion durch die Förderung von Stall- und Landtechnik noch weiter zu fördern, anstatt endlich auf leidfreie Alternativen zu setzen.
Positiv sind auch die Ombudsstelle sowie das Verbandsklagerecht anzumerken. Ein staatliches Tierwohllabel haben wir hingegen an unterschiedlichen Stellen kritisiert, diese Kritik bleibt weiterhin und auch bei anderer Ausgestaltung gültig.
Nina Scheer & Karl Lauterbach
Nina Scheer & Karl Lauterbach treten ihrer Wahl-O-Mat-Antwort nach nicht nur für einen entsprechenden Abbau der Steuerprivilegierung auf Fleisch ein, sondern wollen auch „Massentierhaltung langfristig überwinden“.
Im Folgenden beziehen wir uns auf ihre Antwort zu unserem Wahlprüfstein und das Positionspapier Klimaschutz und Energiewende beschleunigen.
Auszug aus dem Positionspapier Klimaschutz und Energiewende
Der IPPC-Sonderbericht vom August 2019 unterstreicht den immensen Einfluss einer fehlgesteuerten Landwirtschaft auf das Weltklima. Die heute gegebenen systemischen Anreize für Gewinne durch Masse müssen dringend beendet werden. Sowohl über Freihandelsabkommen als auch Agrarsubventionen wird heute Masse zu niedrigem Preis belohnt. Das muss sich ändern.
Wenn ein Großteil der Klimabelastung aus dem Sektor der Landwirtschaft erfolgt und allein durch die Verminderung von Fleischkonsum sowie die Vermeidung der Vernichtung von Nahrungsmitteln möglich ist, muss die Werthaltigkeit von Fleisch neu bewertet werden. Es kann nicht sein, dass Produkte, die mit Dumping zulasten von Sozialstandards, Boden-,Gewässer- und Tierschutz sowie zulasten von Artenvielfalt hergestellt werden, durch einen niedrigen Preis marktwirtschaftlich bevorteilt werden. Verpflichtende Standards für Tierwohl, zur Vermeidung von gewässer-, arten- und gesundheitsgefährdenden Dünge- wie Pflanzenschutzmitteln bzw. Herbiziden müssen dem Preisdumping entgegen wirken. Der Nitrateinsatz muss durch ein wirksames Düngeschutzsystem drastisch reduziert werden.
Was anreizorientiert nicht erreicht werden kann, muss durch klare Rahmengesetzgebung erfolgen. So muss der Einsatz von Glyphosat und gleichsam gefährdender Wirkstoffe verboten werden. Standards im Umgang mit Tieren müssen verpflichtend in Orientierung am Tierwohl erfolgen und nicht nach dem Prinzip der Wirtschaftlichkeit.
Sie fordern:
In der Landwirtschaft muss der Anbau von Nahrung für den Menschen gegenüber dem Anbau von Nahrung für Tierfutter steuerlich begünstigt werden. Importiertes Tierfutter (häufig Soja) erhält einen Aufschlag, sodass keine Unterwanderung der Begünstigung von landwirtschaftlicher Nahrung [für den Menschen] stattfindet. Belastungen von Böden, Gefährdung der menschlichen Gesundheit sowie von Insekten und der Artenvielfalt und auch das Leid von Tieren wird steuerlich erfasst; Eine tiergerechte Haltung sowie schonende Landwirtschaft nach dem Leitbild von ökologischen bzw. Bio-Lebensmitteln wird zur Norm.
Unsere Bewertung
Dies wäre ein klarer Cut gegenüber der freiwilligen Verbindlichkeit der Bundesregierung und stellt eine Richtungsentscheidung dar, die wir insgesamt begrüßen. Denn dies würde die Tierproduktion deutlich senken. Unserem Wahlprüfstein nach tritt das Team zudem dafür ein, wirtschaftliche Interessen nicht über den Tierschutz zu stellen und ein flächendeckendes Verbandklagerecht für Tierschutzorganisationen zu schaffen.
Dagegen erzeugen Aussagen wie
Im Sinne der Tiere und der Verbraucherinnen und Verbraucher lässt sich eine artgerechte Haltung von Tieren auch über das Gemeinwohl ableiten,
Wahlprüfstein Sozis für Tiere
oder
Eine tiergerechte Haltung sowie schonende Landwirtschaft nach dem Leitbild von ökologischen bzw. Bio-Lebensmitteln wird zur Norm.
Positionspapier
und
In der Förderpolitik muss statt Quantität die Schonung der Böden, Biodiversität, der Nicht-Einsatz von Planzenschutzmitteln bzw. Herbiziden, Gentechnikfreiheit sowie Tierwohl (ökologische Landwirtschaft) belohnt werden.
Wahlprüfstein Umweltorganisationen
unseren deutlichen Widerspruch. Solange Tiere produziert werden, um ausgebeutet und getötet zu werden, gibt es weder ein „Im Sinne der Tiere“ noch eine tiergerechte Haltung oder Tierwohl. Hier muss sozialdemokratische/sozialistische Kritik ansetzen und Alternativen leisten. Willi Eichler machte diese Perspektive in seinem Essay von 1927 sehr deutlich:
Rufen wir Proletarier etwa nach einer humanen Ausbeutung? Oder gilt unser Kampf nicht vielmehr der Ausbeutung überhaupt? Gilt er aber der Ausbeutung überhaupt, dann dürfen wir auch nicht selbst ausbeuten; im Gegenteil: gerade die Ausgebeuteten selbst sind am ehesten in der Lage, die Qualen der Tiere nachzufühlen. Sieht man aber diese Qualen – und man sieht sie, wenn man die Augen aufmacht –, dann ist man auch verpflichtet, sie abzustellen, wenigstens so weit, wie man im Augenblick dazu in der Lage ist. Und die Macht des einzelnen reicht wenigstens so weit, selbst Vegetarier zu sein, also für seinen Teil sich fernzuhalten von dem Morden.
Wenigstens, sage ich; denn das ist in Wahrheit noch sehr wenig. Oder was würden wir zu einem „Sozialisten“ sagen, der glaubt, seiner Pflicht als Sozialist dadurch zu genügen, daß er sich nicht an der Ausbeutung der Arbeiter beteiligt. Als Sozialisten bezeichnen wir doch im Ernst nur den, der gegen den Kapitalismus den Kampf aufnimmt und sich nicht damit begnügt, selbst kein Kapitalist zu sein. – Willi Eichler in Sogar Vegetarier
Unsere Wahl: Nina & Karl
Trotz dieser Schwäche, die im Wesentlichen der Kritik(un-)fähigkeit der Sozialdemokratie insgesamt geschuldet ist, möchten wir dir die Wahl von Nina & Karl empfehlen. Nur bei ihnen nehmen wir ein hohes Interesse am Thema und eine stärkere Richtungsentscheidung, Massentierhaltung langfristig überwinden, wahr.
Dieses Video entstand auf der Regionalkonferenz in Baunatal am 16.09.2019. Gerne hätten wir unsere Frage an alle Teams gestellt, leider mussten wir uns auf ein Team beschränken. Frage und Team wurden unter dem Gesichtspunkt gewählt, ein bedeutende Perspektive anzusprechen und zumindest eine halbwegs positive Antwort zu erhalten. Keinswegs stellte dies eine Vorauswahl für unsere Wahlempfehlung dar.